Schwieriger Selbsttest

08.11.2023

Schwieriger Selbsttest

USINGEN – Gerd Seidenstücker deckt bei Rollator-Tour viele Mängel in der Stadt auf

Nicht behindertengerecht: Gerd Seidenstücker benötigt noch keinen Rollator, dennoch zieht er mit der Gehhilfe durch Usingen und deckt so manchen Mangel auf. FOTO: SCHWARZ-CROMM

Als Gerd Seidenstücker den alten Rollator im Sperrmüll entdeckte, reifte sofort ein Plan in ihm. Wie ist es, auf solch ein Hilfsmittel angewiesen zu sein? „Das hat mich so richtig gereizt“, berichtete er. Das Selbstexperiment des 74-Jährigen, der im Magistrat sitzt und Mitglied des Seniorenbeirats ist, begann.

„Solch ein Rollator weist ohne Zweifel gewisse Vorteile auf“, bemerkte er, und zeigte auf den Einkaufskorb und den Sitz. Keine schweren Einkäufe mehr nach Hause schleppen müssen und sich hinsetzen können, wann immer man es möchte. Doch als er dann mit dem Rollator Usingen neu zu entdecken versuchte, bemerkte er recht schnell, was alles für Rollator-Nutzer im Argen liegt. „Für Rollstuhlfahrer sind alle diese aufgedeckten Probleme noch mal so schlimm“, überlegte er, während er den schön anzusehenden Schlossplatz entlang ruckelte.

Rüttelstrecke Schlossplatz

Der gesamte Körper wird beim Überqueren des Schlossplatzes durchgeschüttelt. Eine ältere Rollator-Nutzerin, die gerade mit der Hilfe von zwei anderen Frauen das Café Keth verlassen hatte, bestätigte das. „Was die Stadtväter hier geplant haben, sieht zwar schön aus, ist aber der Tod für uns“, machte sie ihrem Ärger hörbar Luft. Ein Rollstuhl schiebender Mann, der gerade vorüberging, rief kurz rüber, „Was dieses Ruckeln für einen Menschen im Rollstuhl bedeutet, kann man sich vorstellen.“

Nebenbei gesagt geht es einem Baby im Kinderwagen nicht anders. „Nicht nur deshalb nehme ich mein Kind immer in die Trage, wenn ich in der Stadt unterwegs sein muss“, berichtete eine junge Mutter mit Kleinkind vor dem Bauch.

„Man bekommt mit einem Rollator plötzlich eine andere Sicht der Dinge“, erkannte Gerd Seidenstücker sehr schnell. Bei der Gelegenheit sah er sich den Eingang zum Café Keth genauer an. Die Frau mit dem Rollator hätte es ohne die Hilfe der anderen Frauen nicht geschafft, hinein und hinaus zu gelangen: Mehrere Stufen sind auf beiden Eingangsseiten. Allerdings zur Obergasse hin wenigstens eine Rampe. Die allerdings ist von Rollstuhlfahrern nur mit Hilfe anderer zu meistern. Auch für den Rollator ist da ohne Hilfe kaum was möglich.

Mit den Usinger Lokalitäten ist das so eine Sache. Ins Rathauscafé kann man zwar hintenherum ebenerdig hineinfahren. Der Weg per Rollstuhl in den Gastraum ist aber durch einen Getränkekühlschrank verengt.

Lokale haben Nachholbedarf

Und wie sieht es auf dem Alten Marktplatz aus? Gerd Seidenstücker hat sich dort umgesehen. Im Restaurant Romantico kommen zwei starke Männer hinaus, um Rollstuhlfahrer die Treppen hinauf ins Lokal zu tragen. Bei „Uwe und Ulli“ kommen Rollstuhlfahrer nicht weit: Die Treppen und die Enge im Gebäude hindern. Gegenüber, bei „Bembel und Gretel“, wird bei Bedarf eine Rampe in den Eingang gelegt. Ebenerdig befindet sich eine behindertengerechte Toilette. Ins Lokal „Die Lampe“ kommt man weder mit Rollator noch mit Rollstuhl. Treppen sind im Weg.

Und so geht es mit den Geschäften in Usingen weiter: Die wenigsten sind behindertengerecht. Stichwort Fachmarktzentrum, da ist Gerd Seidenstücker die steile Bordsteinkante an den Behindertenparkplätzen aufgefallen. Wo man schon mit dem Einkaufswagen schwer oder gar nicht hochkommt, da klappt das mit einem Rolli schon gar nicht.

Aber, so berichtete der Selbsttester, das habe das Rathaus schon auf der Liste. Sprich: Die hohen Kanten sollen angeglichen werden. Übrigens ist das Rathaus selbst vorbildlich in Sachen behindertengerecht zu erreichen, meinte Seidenstücker. Er ist nicht nur in der Usinger Politik, sondern auch im Seniorenbeirat aktiv tätig und plant für das kommende Jahr eine Schulung für Rollator-Fahrer. Über den Verkehrsverbund hat er Kontakt aufgenommen, um von einem Fachmann erklären zu lassen, wie man mit Rollator in einen Bus einsteigt oder wie man Treppen überwinden kann.

Ein Gutes hatte sein Selbsttest dann doch: Schiebt man einen Rollator vor sich her, begegnen einem die Mitmenschen besonders freundlich und rücksichtsvoll, hat Gerd Seidenstücker erfahren.

Quellenangabe: Usinger Neue Presse vom 07.11.2023, Seite 14